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Die Magie der Büroklammer

Von Volker Hummel

Nach dem opulentem Mahl nun literarische Schonkost. Trotz der ungewohnten Kürze ist der neue Roman "Körperzeit" von Don DeLillo eine spannende Spurensuche im Privaten.

Körperzeit: Don DeLillos jüngstes Werk

 "Der neue DeLillo ist da." Spätestens seit der Veröffentlichung von "Underworld" vor zweieinhalb Jahren ruft dieser Satz eine erhöhte Speichelproduktion in der Kritikergemeinde hervor, zählt der amerikanische Autor seit seinem Epochenroman doch endgültig zum globalen Kanon der großen Literatur. So erscheint Don DeLillos neuer Roman "Körperzeit" denn auch gleichzeitig weltweit, und reflexartig stürzen sich die internationalen Rezensenten auf das neue Opus, um ihm seinen rechten Platz im Oeuvre des Meisters zuzuweisen.

In den USA, wo der Roman Anfang Februar mit einem kleinen Vorsprung zuerst erschien, machte sich schnell Ratlosigkeit breit: Handelte es sich bei der 827 Seiten langen Nachkriegsgeschichte von "Underworld" noch um ein viel gängiges Menü, das jedem Kritikergaumen ein leckeres Prosahäppchen bot, fühlten sich die Rezensenten nun plötzlich auf Schonkost gesetzt: Nur 128 Seiten Umfang hat die Originalausgabe - ein ziemlich ratloses Herumirren auf der Suche nach Filetstückchen, um seine Zähne darin zu versenken.

Der Bezug auf erfolgreiche Vorgänger gehört zum Geschäft, doch oft verstellt er auch den Blick auf das neue Werk. Clevere Rezensenten umgehen das Dilemma, indem sie gerade den radikalen Wechsel in Umfang und Thema als Zeichen der schriftstellerischen Größe deuten.

Doch wovon genau handelt eigentlich "Körperzeit"? Auf der inhaltlichen Ebene hat es der Leser mit einem Kammerspiel für drei Figuren zu tun. In einem Haus an der Ostküste der USA lebt die Performancekünstlerin Lauren Hartke mit ihrem Mann, dem Filmregisseur Rey Robles. Nach dem Selbstmord ihres Mannes zieht sich Lauren in das Sommerhaus zurück, wo sie einen seltsamen Fremden trifft, den sie "Mr. Tuttle" nennt. Von den sieben Kapiteln ist nur das erste dem häuslichen Beieinander der beiden Eheleute gewidmet, während der Hauptteil des Buches von Laurens Trauerarbeit handelt, bei der ihr der mysteriöse Mr. Tuttle als eine Art Medium dient.

Die radikale Hinwendung zum Augenblick

Beim Versuch, das Romangeschehen genauer zu beschreiben, begibt man sich schon auf dünnes Eis, denn allen Vorgängen haftet etwas eigentümlich Geisterhaftes, Unwirkliches an. DeLillo ist ein Meister der Verfremdung alltäglicher Handlungen und Objekte, die er mit seiner jedes Detail wahrnehmenden Sprache zum Leben erweckt. Diese radikale Hinwendung zum Detail, zum Augenblick, erreicht er durch einen Verzicht auf "erzählerische Zeit", wie es an einer Stelle heißt, also einer der Alltagsgewohnheit entsprechenden Abfolge der Dinge. Das Gegenmodell zu dieser konventionellen Zeitauffassung ist ebenjene Körperzeit, die Lauren Hartke in ihren Performances nachgeht und die auch die eigentümliche Stimmung des Romans ausmacht.

Schon das im ersten Kapitel geschilderte Frühstück von Lauren und Rey ist ein atemberaubendes Experiment, das in seiner Erkundung des Namenlosen, des Ungewollten, des Zwischen-den-Zeilen-Ablaufenden an Becketts Prosa erinnert - ohne absurd zu wirken. Die in jeder Beziehung sich einschleifenden kleinen Rituale und Auslassungen, die Kommunikationspausen und ausgeblendeten Wahrnehmungen rückt DeLillo mit einer Sprachperformance in den Blick, die die Zeit zerdehnt und Übersehenes ins Zentrum rückt.

Ein Haar im Mundwinkel, eine Büroklammer, eine dumpf riechende Sojaschachtel werden zu Steinen im Strom der Zeit, deren Strudelwirkung den Leser in ein seltsam bekanntes, immer nur erahntes Universum der körperlichen Wahrnehmungen hineinzieht. Lebt das erste Kapitel noch wesentlich von der Präsenz der Figuren, stehen die folgenden sechs ganz im Zeichen der Abwesenheit und Nachträglichkeit. Entgegen den Ratschlägen ihrer Freunde ist Lauren nach dem Selbstmord ihres Mannes in das einsame Haus am Meer zurückgekehrt.

Verkörperung einer allumfassenden Zeitdimension

In einem der Zimmer stößt sie auf Mr. Tuttle, den DeLillo etwas zu aufdringlich als eine Verkörperung der undifferenzierten Körperzeit seiner Hauptfigur zur Seite stellt. Ist er eine Projektion von Lauren, ein entlaufener Irrer, ein Geist oder ein harmloser Mann mit einer unheimlichen Erinnerungsgabe? Jedenfalls scheint er in einer Zeitdimension zu leben, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins sind, und aus der heraus er Fragmente von vergangenen Gesprächen zwischen Lauren und ihrem Mann exakt wiedergibt. So wird er für Lauren und den Leser zu einem wandelndem Memento Mori, einer rätselhaften Figur, die das aus dem Muster der herkömmlichen Chronologie Herausfallende verkörpert.

Was sich anhört wie ein sehr privater und radikaler Gegenentwurf zu "Underworld", entpuppt sich bei genauem Hinsehen als Quintessenz von DeLillos Werk. Auch "Underworld" erzählt ja die Geschichte der vergangenen Jahrhunderthälfte von ihren Rändern her als eine Geschichte übersehener Spuren. Ob DeLillo nun dem halb vergessenen Lenny Bruce seine Stimme verleiht, sich ins Ödland der Bronx begibt oder Müll in all seinen Formen zu poetischem Recht verhilft, immer begreift er Historie als eine Abfolge von Verdrängungen und Auslassungen, die er sichtbar macht. "Körperzeit" ist eine ebensolche Spurensuche im privaten Bereich, ein dichterisches Werk höchster Vollendung, mit dem Don DeLillo ein weiteres Mal die Welt aus ihrer Erstarrung erlöst.

Don DeLillo: "Körperzeit". Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch, Köln; 140 Seiten; 29,90 Mark.

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