stream of unconsciousness

Thomas Willmann 09.04.2001

Don DeLillos "The Body Artist" wagt die Fantasie eines Körpers außerhalb der Zeit

Die Grenzen zerfasern. Wenn man nur nah genug hinsieht. Die Haut, diese offensichtlichste Barriere des "Ich", kennt unter dem Mikroskop kein klares Außen und Innen mehr. Sie ist ein Ort des Austauschs, des Atmens, Aufnehmens und Absonderns. Durchlässig - für Neues, Fremdes, Eigenes, Totes. Unser Verhalten - diese Behauptung unserer Individualität gegenüber der Welt - ist nicht so rational, so kontrolliert von Freiem Willen, wie wir gern meinen. Voll ist es von Automatismen, Unbewusstem. Voll von Imitiertem, Abgeschautem. Die Linie aber zwischen all dem und dem Genuinen, Selbstbestimmten, verschwindet, sobald man sie minutiös ziehen will. Das Bewusstsein ist kein starker, klarer Strom, wie aus der distanzierten Draufsicht scheinen mag. Es schwappt unendlich viel des Un-, des Halbbewussten in ihm herum; in jedem Moment verfängt es sich in kleinen Strudeln, ändert die Flussrichtung, taucht ab und auf. Und drei Sekunden breit, sagt die Psychologie, ist unser Gefühl des "Jetzt". Jeder Moment ist ein Intervall, kein Punkt. Je genauer man die Dinge packen will, desto unmöglicher wird es, sie von anderen Dingen abzugrenzen.

 Es ist ein solch mikroskopischer Blick, den Don DeLillo einstellt in "The Body Artist". Nach dem Jahrhundertroman "Underworld" jetzt ein schmales Bändchen, gerade 124 großzügig bedruckte Seiten. Ein Kammerspiel mit drei Haupt- und nicht mehr Randfiguren, räumlich und zeitlich auf eng umzirkelten Terrain. Eine von DeLillo ungewohnte Verlegung aufs Private, aber kein Rückzug.

Die ersten mehr als zwanzig Seiten: Ein Ehepaar beim Frühstück in ihrer Küche. Sonst nichts. Bis ins Kleinste beobachtet - bis in die Details, wo dem Alltäglichen all die stillen Grundannahmen wegbröckeln, die unserem Leben Sicherheit, Struktur vorgaukeln, es alltäglich machen. Es ist alles hier, beängstigend präzise eingefangen: Die Rituale, die unbewussten Gesten, die wir ausführen als vermeintlich selbstbestimmte Menschen und von denen wir doch nicht wissen, wie und woher wir sie uns angewöhnt haben. Die wir oft nicht einmal bemerken. Die halbfertigen Gedanken, die Lücken zwischen Denken und Handeln, die Macht der vorgefertigten Formeln der Sprache und ihr Versagen, Gemeintes zu greifen. Wie wenig überhaupt unser Sprechen in Wahrheit mit Vermittlung eindeutiger Information in klar strukturierten Sätzen zu tun hat - all seine Redundanz, seine Unschärfe, sein Sich-im-Kreis-Drehen; sein heimliches Abstecken sozialer Reviere, Beziehungsterrains. Wie wir schon "Was?" nachfragen, noch während wir gleichzeitig das vom anderen Gesagte verstehen. Wie auch sonst die Dinge oft erst retrospektiv ins Bewusstsein kommen, wie wir sie wahrnehmen, nachdem sie vorbei scheinen, weil erst ein anderes Ereignis sie ins Licht unserer Aufmerksamkeit bringt. Wie wir so in jeder Sekunde die Chronologie des Geschehenen mikroskopisch neu ordnen, für unsere spätere Erinnerung zu einer autoritativen Geschichte umschreiben. Es ist eine Art stream of unconsciousness, der DeLillo hier gelingt.

Dann ein kurzer Nachruf aus einer Zeitung: Der Mann, die Frau bekommen Namen und eine (im Vagen, Ungesicherten gefangene) Geschichte. Wir erfahren: Der Mann, der sich Rey Robles nannte, Regisseur, hat sich kurz nach diesem Frühstück umgebracht. Die Frau, Lauren Hartke, Performerin, Körperkünstlerin, "body artist" ist danach allein in dem großen Haus an der See. Bis sie in einem der Zimmer einen seltsamen Mann findet. Einen Mann ohne Identität, des Sprechens kaum fähig. Und offenbar nicht in unserem geradlinigen Ablauf der Zeit verankert. Fetzen der Zukunft, der Vergangenheit scheinen ihm genauso präsent zu sein wie der Moment. Lauren nimmt ihn auf, versucht, mit ihm zu kommunizieren, sein Geheimnis zu ergründen. Sie fängt an, ihren eigenen Körper von den Zeichen der Identität zu reinigen, säubert, bleicht ihn, versucht sich ihr Ich und ihre Vergänglichkeit vom Leib zu schmirgeln. Und beginnt damit die Arbeit an ihrer Performance "Body Time". (Nicht willkürlich und nicht ohne Bedeutung heißt die nicht, wie die deutsche Ausgabe des Romans betitelt ist, "Körperzeit" sondern "Körper Zeit". Zwei Begriffe, deren Beziehung noch zu klären ist, nicht ein zusammengesetzter.)

Viel von dem, was Don DeLillo in seinem neuen Buch lehrt, sind altvertraute, inzwischen auch schon paradox klassische Lektionen der Postmoderne. Lektionen von der willkürlichen Gemachtheit aller Grenzziehungen, von der folglichen Instabilität jeder Identität, vom Körper als Text unserer Identitätsschreibungen. Dennoch bleibt er (Gaddis und Heller mögen die mögliche, aber unbeabsichtigte Pointe verzeihen) der lebendigste der großen, alten PoMo-Heroen; ist auf seine Weise noch immer so aktuell und wichtig, wie es die herausragendsten Erben der Tradition wie Richard Powers und David Foster Wallace auf ihre in neue Richtungen entwickelte Art sind. Wäre da an Erkenntnis nichts Neues zu gewinnen, so wäre da immer noch die faszinierend kryptische Präzision der Sprache (die, ähnlich wie ihren eigenwilligen Rhythmus, die deutsche Übersetzung nicht voll einfangen kann), bei der jedes Detail mit Bedeutung und Doppelbedeutung aufgeladen ist; eine Sprache, der immer wieder Bilder gelingen, die in ihrer Dichte die komplexen Ideen fassbar machen knapp unterhalb der Grenze des einfach verbalisierbaren Verstehens. Überhaupt ist das Buch, wie stets bei DeLillo, ungemein dicht gewebt, ist ein ebenso an Äußerem enorm reduziertes wie an Substanz reiches Beziehungsgeflecht - das Spinnennetz im ersten Absatz des Romans ist - wie so viele Details bei DeLillo - auch selbstreflexiv zu verstehen. (Und wie üblich belohnt DeLillo in diesem Buch genaues und mehrfaches Lesen.)

Aber "The Body Artist" begnügt sich ohnehin nicht nur mit Bekanntem. Wie das Buch die Frage der Zeit mit denen von Grenzen, Körpern, Identität verflicht, ist alles andere als abgestanden. Erzählen heißt, Ereignis-Chronologien schaffen. Wenn nun aber unsere Identität eine Art Story ist, an der wir ständig schreiben und umschreiben; wenn der Strom unseres Bewusstseins eine vereinheitlichende Geschichte ist, die auf der Basis eines Reservoirs an Sinneseindrücken und (auch teil- und unbewussten) Gedanken gedichtet wird: Was heißt es dann, wenn wir schon auf mikroskopischer Ebene feststellen müssen, dass unser Gefühl für Chronologie alles andere als untrüglich ist? Dass was wir als Moment wahrnehmen ein undeutlicher, verschmierter Abschnitt Zeit ist, dem wir erst nachträglich die Ordnung einer Abfolge verleihen? Wie, wenn auch auf höherer Ebene, in größerem Maßstab unsere Kategorien von Vergangenheit, Zukunft und Jetzt nur Hilfskonstruktionen wären, um Struktur in eine viel komplexere, zu komplexe Realität zu bringen?

"The Body Artist" nimmt diese Fragen ernst, spielt sie virtuos durch. Und lässt auf den letzten Seiten doch eine eher pragmatische, verhalten optimistische Lösung anklingen. Die Fantasie eines Körpers außerhalb der Zeit, eines Orts der Gleichzeitigkeit aller Momente, scheint da auf als autistische Projektion zur Flucht vor der unabwendbaren Vergänglichkeit. Sich einem Außen auszusetzen, heißt das Innere gefährden; sich in der Zeit, der nur in eine Richtung fließenden Zeit, befinden, heißt dem Tod ausgeliefert sein. Aber das Innen, das Ich, kann sich nur über das Außen definieren, und ein Sein, eine Geschichte, kann es nur haben in der Zeit. Im letzten Bild des Romans scheint Lauren Hartke gelernt zu haben, dass wir etwas Besseres als zerfasernde Grenzen und unsichere Chronologien nicht geboten bekommen. Dass diese aber - zumindest wenn man weiß, dass sie zerfasernd und unsicher sind - auch besser sind als zeitlose Träume von Unbegrenztheit.

Don DeLillo: The Body Artist, dt.: Körperzeit, Kiepenheuer & Witsch, 134 pp., DM 29,90

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Verlag Heinz Heise, Hannover

last modified: 09.04.2001

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